Kerstin Schulze Kalthoff im Porträt: Beharrlich und unkonventionell in die nationale Spitze

22.12.2022 | 2022 war das Jahr von Kerstin Schulze Kalthoff: Platz sechs bei den Deutschen Meisterschaften über die 3000m Hindernis in persönlicher Bestleistung, neue Hausrekorde über 5000m und 1500m, schließlich der 5 km-Straßen-Westfalenrekord.

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Die bisher erfolgreichste Saison der 24-Jährigen ist das Resultat einer kontinuierlichen Entwicklung und einer Vorliebe für unkonventionelle Wege. Hindernis-Rennen gleichen für Kerstin Schulze Kalthoff dabei einem beständigen Ritt auf des Messers Schneide: „Die Kunst besteht darin, die Balance zwischen zu schnellem und zu langsamem Anlaufen zu finden. Der erste Kilometer fühlt sich oft wie joggen an – wer sich aber verleiten lässt zu früh zu beschleunigen, bezahlt auf dem Schlusskilometer.“ Im Gegensatz etwa zu den „rollenden“ 5000 Metern brechen die Hindernisse beständig den Rhythmus der Läuferinnen und Läufer und wenn in der Ermüdungsphase die Kraft oder die Konzentration allzu sehr nachlassen, erleben selbst Weltklasse-Athletinnen und Athleten ein spätes Debakel bis hin zum Sturz am letzten Wassergraben. Gerade diese Rhythmusbrecher machen für Kerstin auch den Reiz ihrer Disziplin aus: „Man denkt in Hindernisabständen, fokussiert sich immer wieder aufs Neue.“

Trainingsgestaltung als anspruchsvolles Mosaik

Kerstin Schulze Kalthoff liebt Abwechslung und Komplexität. „Ich bin wohl eher eine nicht-klassische Läuferin“, spielt sie schmunzelnd auf ihren Faible für Koordination und Kraft-/Athletiktraining an. Auch sonst kann man ihr Training als eine Art anspruchsvolles Mosaik beschreiben, bei dem etwa in die Grundlagen-Textur neben Dauerläufen auch Radeinheiten oder Aquajogging einfließen, bei ausreichend Zeit Hasardeurstücke wie eine sechsstündige Bergwanderung im Rahmen eines Alpen-Trainingslagers. Manch ein Coach würde sich da die Haare raufen, herrschen in der Trainingslehre doch mehr oder weniger scharf umrissene Prototypen vor, an denen es sich zu orientieren gilt. Nicht so Robert Welp, der Kerstin seit 2016 hauptverantwortlich betreut und sie zu Beginn der Saison 2021 auch von ihrem Heimatverein LG Rosendahl zur LG Brillux gelotst hat. Der 42-Jährige, selbst seit seiner Jugend ein passionierter Läufer, beherrscht zwar die erprobten Trainingsmodelle aus dem Effeff, geht mit Kerstin aber auch unkonventionelle Wege. Teil davon ist seit zweieinhalb Jahren die personelle Öffnung hin zu Sprinttrainer Jan Vogt, der mit Kerstin an Kraft und Schnelligkeit arbeitet. „Ich bin beiden sehr dankbar, dass sie meine Vorstellungen mittragen und wir ein gemeinsames Konzept entwickelt haben“, weiß Kerstin die unprätentiöse Zusammenarbeit von Welp und Vogt zu schätzen.

Ausgezahlt hat sich der Ansatz allemal: Den Leistungsschub der zurückliegenden Saison, als Kerstin in Schlagdistanz zur 10 Minuten-Marke vorrückte, führt Robert Welp neben stark verbesserten Zubringerleistungen auch auf die gesteigerten Kraftwerte zurück. Nebenbei hat Kerstin durch die Kooperation mit Jan Vogt eine zweite Trainingsgruppe hinzugewonnen. „Beide Gruppen haben für mich einen sehr hohen Stellenwert. Wir haben ein tolles Miteinander, das ganz wichtig für die Motivation ist, und auch der Spaß kommt nicht zu kurz“, ordnet sie den zwischenmenschlichen Faktor ein.

Am Münsteraner FLVW-Stützpunkt von Robert Welp als Lauftalent entdeckt

Um Kerstins Entwicklung zu einer nationalen Top-Läuferin nachzuvollziehen, muss man den Bogen weiter spannen; hinter der starken Saison 2022 stecken Jahre akribischen Trainings. „In ihrer Grundkonstitution hatte Kerstin nicht die optimalen Voraussetzungen für den Weg in die Spitze. Aber sie war von Anfang an bereit, hart an sich zu arbeiten“, blickt Robert Welp zurück auf 2014/15, als er die damals 16-Jährige beim FLWV-Stützpunkttraining kennenlernte. Kerstin war bis dahin bei der LG Rosendahl als solide Mehrkämpferin unterwegs, die in den Block-Wettkämpfen durch starke 2000 Meter-Zeiten auffiel. Die Anbindung an den Münsteraner Stützpunkt löste dann eine beachtliche Dynamik aus: In ihrem zweiten 3000 Meter-Rennen überhaupt lief Kerstin die Norm für die deutschen Jugendmeisterschaften und beendete das Jahr 2015 auf Platz zwei der westfälischen U18-Bestenliste (10:21,57 Minuten), 2016 schrammte sie über die Hindernisse haarscharf an einer JDM-Medaille vorbei – der berüchtigte letzte Wassergraben raubte das greifbare Edelmetall, indes war die Leidenschaft für ihre Disziplin entfacht.

„Hier bin ich! Ich habe hart trainiert und kann richtig schnell laufen.“

Wegweisend für die weitere Karriere waren in den Folgejahren die ersten DM-Medaillen in der U23-Klasse (5000 Meter, Crosslauf), vor allem aber ihre Premiere bei den nationalen Meisterschaften der Erwachsenen: Vor 30.000 Zuschauern startete Kerstin 2019 im Berliner Olympiastadion und merkte, dass die Atmosphäre etwas mit ihr machte: „Ich hatte so etwas noch nie erlebt. Die Stimmung war unfassbar und bei aller Aufregung habe ich es genossen, die Aufmerksamkeit so vieler Menschen zu erfahren.“ Die Lust auf Events, positive Emotionen im Angesicht von Kontrahentinnen und TV-Kameras sind für eine angehende Spitzenläuferin eine ideale Voraussetzung. Wer daraus schöpfen kann, dem gelingt es zumeist besser, bei Saisonhöhepunkten die Form auch auf die Bahn zu bringen, möglicherweise sogar ein paar Extra-Prozente herauszukitzeln. Kerstins mentales Erfolgsrezept klingt ebenso simpel wie bemerkenswert: „Wenn ich bei einer Meisterschaft starte, dann möchte ich mich auch zeigen und ausstrahlen: ‚Hey, hier bin ich! Ich habe hart trainiert und kann richtig schnell laufen.‘“ Richtig schnell waren dann auch ihre Resultate: Seit 2016 ist Kerstin in ausnahmslos allen Jahren bei Deutschen Meisterschaften ihre Saisonbestzeit gelaufen, viermal hat sie sogar eine neue persönliche Bestleistung aufgestellt. „Eine außergewöhnliche Statistik“, kommentiert Robert Welp.

Teil des Wegs in Spitze waren und sind bei aller positiven Grundhaltung auch das Durchschreiten von Tiefphasen, etwa Verletzungen mit Trainingsausfall. Langmut ist dann nicht Kerstins Stärke und der Trainer ist regelmäßig auch als Mentalcoach gefragt: „Ich muss Kerstin in solchen Phasen daran erinnern, dass wir uns in einem langfristig angelegten Trainingsprozess befinden – wenn da ein paar Wochen nicht nach Plan laufen, ist das für das große Ganze unerheblich.“ Ein wenig mehr Lockerheit stünde seiner Vorzeige-Athletin gut zu Gesicht, benennt Welp eine mentale Reserve für die Zukunft.

Sechs persönliche Bestleistungen im Jahr 2022, annähernde Perfektion in Utrecht

Die unmittelbare Vergangenheit, das Jahr 2022, bot in der Gesamtbilanz wenig Reserven: Kerstin lief persönliche Bestzeiten über 1500 Meter (Halle, Freiluft), über 2000 Meter Hindernis und 3000 Meter Hindernis, über 5000 Meter und im 5 Kilometer-Straßenlauf; sie erreichte ihre bisher beste Platzierung bei einer Erwachsenen-DM; im Herbst fügte sie ihrer Karriere-Bilanz sogar den ersten Westfalenrekord hinzu, als sie die 5 Kilometer-Straßenmarke beim Coesfelder Citylauf auf 16:54 Minuten drückte. Zudem erlebte Kerstin den ersten großen internationalen Einsatz, der allerdings dann doch Reserven speziellen Ursprungs bereithielt: Die Studierenden-Cross-Weltmeisterschaften in Portugal wurden für Kerstin zu einer harten emotionalen Prüfung, als sie aufgrund eines haarsträubenden Abstimmungsfehlers des Hochschulsportverbandes zwar im Nationaltrikot, aber außerhalb der Wertung lief.

Aus einem an Highlights und Events reichen Jahr stach eine Leistung besonders heraus: Die 5000 Meter in Utrecht zum Ende der Bahnsaison verdienen im Selbsturteil der Perfektionistin vielleicht erstmals überhaupt so etwas wie das Prädikat „das (annähernd) perfekte Rennen“. Beim Runnersworld Track Meeting pulverisierte Kerstin ihre persönliche Bestleistung und steigerte sich auf hochklassige 16:18,92 Minuten. „Die 5000 Meter rutschten als Ersatz für den von Veranstalterseite gecancelten Hindernis-Saisonabschluss in Wattenscheid in meinen Rennkalender – erst am Tag vor dem Rennen bekam ich die Meldebestätigung. Was dann folgte, war unglaublich.“ Nicht nur aus der Zeit, auch aus dem Gefühl in einem internationalen Feld mithalten zu können, zieht Kerstin große Motivation. Für Trainer Robert Welp ist die Steigerung so etwas wie ein Versprechen für die Hindernis-Zukunft: „Kerstins 5000 Meter-Zeit eröffnet die Möglichkeit für ein baldiges Durchbrechen der 10 Minuten-Schallmauer“, ordnet er die Relevanz als wegweisende Zubringerleistung ein.

Professionelles Umfeld, Doppelbelastung Jura-Studium

Dass es in den nächsten Jahren noch weiter nach vorne gehen könnte, dafür spricht auch das professionelle Umfeld jenseits des Kernteams: Da sind einerseits die physiotherapeutische und die sportmedizinische Komponente, die vom Zentrum für Sportmedizin Münster (ZfS) abgebildet werden. Gearbeitet wird detailversessen, sowohl an der Entwicklung der für Ausdauerbelastungen wichtigen aerob-anaeroben Schwelle (vL3-Schwelle) als auch an dem ohnehin spezifisch ausgerichteten Krafttraining, zu dem etwa einseitige Kastenaufsteiger mit Gewichten oder eine gezielte Ansteuerung der Rumpf- und Tiefenmuskulatur zählen. „Die LG Brillux versorgt uns sehr gut“, dankt Kerstin ihrem Verein. Hinzu kommen individuelle Kooperationen, die im Sport den Top-Athletinnen und Athleten vorbehalten sind.

Das Gesamtpaket ist darauf ausgerichtet, den speziellen Anforderungen des Leistungssports standzuhalten und sie zugleich mit den sonstigen Lebensbereichen auszubalancieren. Als Studentin der Rechtswissenschaften ist Kerstin auch in ihrer nicht-sportlichen Laufbahn gefordert, zumal im Februar das erste Staatsexamen ansteht. Verlässlich Strukturen sind da für ein effizientes Zeitmanagement unerlässlich, ebenso Partner für eine finanzielle Grundsicherheit – an einen Studierendenjob ist bei 15-20 Trainingsstunden pro Woche nicht zu denken. „Ich bin sehr dankbar, dass ich einen solchen Rückhalt habe; in der aktuellen Konstellation kann ich mich voll auf das Studium und den Sport konzentrieren“, hat Kerstin ein tragfähiges Modell gefunden.

10 Minuten-Schallmauer im Visier, perspektivische Grenzen offen

Und das ist gut so, denn die aufstrebende Athletin der LG Brillux hat noch eine Menge vor. Für 2023 steht die bereits erwähnte 10 Minuten-Schallmauer ganz oben auf ihrer sportlichen Prioritätenliste. „Die müssen so langsam fallen, da bin ich ehrlich“, setzt Kerstin ein klares Statement. Was wie eine Pflichtaufgabe klingt, wäre indes gleichbedeutend mit dem Vorstoß in Dimensionen, die in Westfalen noch keine Athletin zuvor erreicht hat: Der Westfalenrekord über die 3000 Meter Hindernis steht seit 2012 bei 10:04,31 Minuten und wird von Verena Dreier (SG Wenden) gehalten. Robert Welp traut seiner Athletin diesen Vorstoß zu: „Wir sind noch nicht an der Leistungsgrenze angekommen.“ Wo diese Leistungsgrenze liegt und wann sie erreicht wird, dieser Blick in die Glaskugel führt im Sport zu nichts und spielt denn auch in den Überlegungen des Duos keine Rolle. Stattdessen wird Kerstin Schulze Kalthoff wie bisher ihren Fokus auf die Gegenwart und den jeweils nächsten Schritt richten, mit Leidenschaft und Beharrlichkeit.